Die Welt ist eine Scheibe

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Als ich geboren wurde soll die Welt noch in Ordnung gewesen sein – erzählte man mir später.

Damals gab es noch keinen Krieg. Erst einige Monate später ging er los.

Ich soll ein echter Wonneproppen gewesen sein. Etwas größer und etwas schwerer als Mutter es erwartete – erzählte man mir später.

Ich wuchs völlig normal auf bis ich begriff was die Erwachsenen um mich herum erzählten.

Genau aus dieser Zeit verblieben einige Zweifel.

Da war die Sache mit dem Mutterkreuz. Ich war das fünfte Kind, also gab es einen Orden. Den bekam meine Mutter. Und ich?

Ich lernte, dass Kinder meist leer ausgehen, wenn Erwachsene in der Nähe sind. Ich glaube meinen Kinder kann es ähnlich ergangen sein, denn an ihrer Kindheit meckern sie bis heute herum.

Dann kam die Brille. Aufgrund eines Augenfehlers sollte ich eine Brille tragen. Natürlich war diese in Kriegszeiten schwer zu beschaffen – erzählte man man mir später sehr oft.

Und was tat ich? Ich spielte. Ich rannte herum und kümmerte mich nicht um die Brille. Peng! Ein Brillenglas zersplitterte an einer Stuhlkante.

Jetzt gab es fast 40 Jahre keine Brille mehr für mich. Erst aus Materialmangel, dann aus Geldmangel und später aus Eitelkeit. Das trug mir unter Spielkameraden den Spitznamen „Schielewipp“ ein. „Schielewipp, der Käse kippt“ riefen sie. So lange ich über den Sinn auch grübelte, ich verstand diesen Satz nicht. Aber er störte mich. Ich tat aber wie es Mutter immer wieder herunter leierte: „Iss Junge, dann wirst du groß und stark!“

Als ich dann fast 180 Zentimeter maß hörte diese Quengelei auf. Ich denke, es war schon einige Jahre früher. Das war, als sie meine Hefte zum Abschreiben brauchten.

Es war schließlich nicht nur meine Körperhöhe, was meine Entwicklung anzeigte. Ich besuchte viele Jahre mehrere Schulen.

Nun ging das schon wieder los. Jeder erzählte mir etwas. Alle Versuche das Erzählte auch auf seine Richtigkeit zu überprüfen gelang mir natürlich nicht. Wie vorher auch.

Am schwierigsten war das mit dem Globus. Mir leuchtete es völlig ein, dass hier die Erde so komprimiert dargestellt wurde, dass sie auf eine Kugel passt. Aber war sie wirklich eine Kugel?

Als Kind erlebte ich die Umgebung doch nur als Ebene. Wenn etwas nicht eben war, dann lag ich plötzlich auf dem Bauch und ich schrie jämmerlich – erzählte man mir später. Damals hätte man mir mit einer Erdkugel eine Riesenangst eingejagt. Ich ging und ging bis ich kopfüber die Erdkugel umrundete – nee. So eine Vorstellung erzeugt heute noch Gruseln. Ich laufe und laufe, vielleicht noch ein Glas mit Bier in der Hand? Und dann? Wenn ich wieder oben bin ist das Glas leer! Mit einem Teller in der Hand, gefüllt mit Schweinshaxe und Kraut würde ich keinen Schritt tun.

Wenn mir die Aneignung von Bildung etwas Zeit ließ lief ich gern durch meine Stadt. Eine Großstadt übrigens. Schöne glatte Straßen. Sanfte Hügel. Und bis zum Horizont immer noch Straßen und Häuser. Später setzte ich mich auf ein Fahrrad. Somit erhöhte sich der Radius in dem ich mich bewegte. Auch meine Erfahrungen erhöhten sich oder vermehrten sich? Ich wurde schlauer – erzählt man sich heute über mich.

Das Schönste war aber die vor mir ausgebreitete Erde mit Wegen, Straßen, Wäldern und Seen.

Ausgebreitet! Nicht gerollt wie ein „Berliner“ und mit Zucker bestreut. Wir Berliner sagen natürlich „Pfannkuchen“ zu den vorher beschriebenen „Berliner“. Ja, auch das ist Bildung, wenn man etwas mehr weiß.

Mein Zweifel mit der kugligen Erde konnte auch nicht ausgeräumt werden, als mich Flugzeuge über Länder und Erdteile brachten. Immer sah ich die Erden langgestreckt. Zwar gab es Höhen und Tiefen, aber die Seen und Meere liefen nicht aus. Mir gefiel das.

Ist die Erde nun eine Kugel? Das Leben konnte mich nicht überzeugen. Dem Lehrer widersprach ich nicht. Das wäre wohl fatal gewesen. Denn ich habe gelernt: Lehrer haben immer Recht, auch im Zweifel. Und meinen beleuchteten Globus habe ich auch in den Müll geworfen. Er hatte mir auch keine Erleuchtung gebracht.

Ein Satz meiner Mutter ist mir in der Erinnerung geblieben, also mehr ein halber Satz: „Wenn ich mal UNTER der Erde bin, wirst du schon sehen…“ Danach kam immer eine Aufzählung meiner Übeltaten.

An diesem Ausspruch knabbere ich heute noch. UNTER der Erde?

Wusste sie damals schon mehr als ich heute?

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